von Bernhard Luther
Zweifel gab es schon immer, ob die damalige RAF der dritten Generation überhaupt logistisch in der Lage war, die Attentate auf den Bankier Herrhausen, die Sprengung des Hochsicherheits-
gefängnisses in Weiterstatt, das Attentat auf den Treuhandchef Rohwedder und andere Anschläge durchgeführt zu haben. Wenn man durch die „kriminalistische“ Brille schaut, gibt es erhebliche Zweifel.
Nicht zuletzt das Desaster von Bad Kleinen, das den damaligen Bundesinnenminister [Rudolfs Seiters] zum Rücktritt zwang und eine saubere juristische Aufarbeitung bis heute nicht stattfand.
Ein Artikel aus der Zeitschrift "Unbequem" der kritischen Polizisten und Polizistinnen, veröffentlicht 1998. Es geht hier um die Aufklärung der Geschichte in Bad Kleinen - Tod von W. Grams und einem Polizisten der GSG 9 (Elitezugriffsgruppe des Bundes). Damals wurde die Begleiterin von Grams - [Birgit Hogefeld] - festgenommen, die dann nicht aussagte, um ggf. den Verfassungsschutz nicht ins Spiel zu bringen, der sie wohl im Untergrund geführt hat.
von Bernhard Luther
Die Zivilkammer des Bonner Landgerichts - nichr die Strafkammer - hatte den Auftrag aufzuklären, unter welchen Umständen der Mensch Wolfgang Grams beim Einsatz des BKA und der GSG 9 ums Leben kam. Nach der Zeugenanhörung im Gerichtssaal sollten die Zeugen ihre Aussagen am Tatort, dem Bahnhof von Bad Kleinen, wiederholen, ggf. auf Nachfrage verändern, bestätigen oder auch ergänzen. Das öffentliche Interesse war groß. Etliche Kamerateams, Fotografen und Reporter waren zur Stelle, um dieses Geschehen festzuhalten. Für mich als ehemaliger Kriminalbeamter des BKA, der den Einsatz in Bad Kleinen damals nur als Außenstehender verfolgen konnte, ergab sich ein überraschendes Bild.
Der Bahnhof von Bad Kleinen ist nicht so groß, wie es durch die häufigen Weitwinkelaufnahmen in den Gazetten den Eindruck machte. Das Festnahmegeschehen und die Flucht von Grams auf den Bahnsteig spielte sich auf engstem Raum ab. Für das Gericht war die Frage entscheidend, was konnten die Zeugen damals sehen, den Selbstmord oder die Liquidation des Wolfgang Grams durch Polizeibeamte. Für mich war die Hauptzeugin, die Kioskbetreiberin Frau Maron, die wichtigste Zeugin, da sie trotz aller gegenteiligen Versuche durch die damaligen Vernehmungsbeamten und Staatsanwälte bei ihrer Version der Tötung des W. Grams durch die Polizeibeamten blieb. Was konnte sie gesehen haben, was nicht?
Da der Kiosk noch an seiner alten Stelle stand, sah ich mir die Sichtposition der Zeugin Maron aus dem Inneren des Kiosk durch das Verkaufsfenster an. Auf den Liegeort von Wolfgang Grams auf den Gleisen hat man aus dem Kiosk eine gute Sicht (siehe Bild
Nr. 1 – das Foto wurde von mir aus der ungefähren Sicht-(Kopf)Höhe von Frau Maron aufgenommen). Die Zeugin konnte demnach das Geschehen sehen und auch beurteilen. Das typische Verhalten des sogenannten "Knallzeugen" - z.B. zwei Autos stoßen zusammen - es knallt - der
Zeuge sieht sich erst um, wenn die Geräusche sein Ohr erreicht haben und rekonstruiert für sich danach den Unfallhergang -, dieses Verhalten kann man Frau Maron nicht unterstellen. Das Gericht stellte fest, dass der Schusswechsel für alle in der Nähe befindlichen Personen zumindest akustisch wahrgenommen werden konnte, zumal auch die Dieselmaschine der Lokomotive eines wartenden Zuges nach Zeugenaussagen abgestellt war. Da mir während der Ausbildung zum Polizeibeamten beigebracht wurde, möglichst den Urzustand am Tatort zu beachten, fragte ich bei der jetzigen Kioskbesitzerin nach, ob etwas verändert worden sei. Diese teilte mit, dass am Stützpfeiler des Bahnsteigdaches in Höhe des Verkaufsfenster des Kiosk zur Tatzeit ein Fahrplan in einem Holzkasten mit Glasscheibe hing. Deutlich waren auch jetzt noch relativ frische Farbspuren am Pfeiler zu erkennen, wo früher der Kasten hing. Dort war der Pfeiler übermalt worden. Schränkt man nun mittels Kasten (auf Bahnsteig 1 war noch ein baugleicher Werbekasten an einem dortigen Stützpfeiler angebracht. Dieser wurde in das Bild Nr. 2 von mir hineinmontiert) die Sicht
auf den Liegeort von Grams ein, so ist der Treppenaufgang zum Bahnsteig 3/4 bzw. 4/5, in Gegensatz zur Aussage von Frau Maron nicht mehr sichtbar. Sie konnte also damals das Gesamtgeschehen nicht sehen - nicht wie Grams die Treppe hochgelaufen kam, nicht wie der später getötete Polizeibeamter hinterherstürmte und erschossen wurde.
Folgen wir diesen, offensichtlich neuen Erkenntnissen (eine Rekonstruktion des Ablaufes wurde anscheinend noch nie aus dieser Blickrichtung vorgenommen), so ergibt sich daraus, dass Frau Maron nur das Fallen des GRAMS und die sich daran anschließenden Handlung gesehen haben kann. Das heißt auch, dass sie sich auch nur auf diesen einzigen Vorgang des Geschehens konzentriert haben konnte.
Die Prozessbeteiligten haben diesen Umstand am Tatort neu zu den Akten genommen. Interessant war auch die Ortsbesichtigung des Stellwerkes des Bahnhofes. Aus guter Sichtposition oberhalb des Bahnsteiges 3/4 konnte der dort eingesetzte BKA-Beamte den gesamten Geschehensablauf beobachten, zumindest als GRAMS den Treppenaufgang heraufrannte. Dass er bei dem Einsatz kein Fernglas dabeigehabt haben soll, spricht nicht für die Gesamteinsatzleitung und übliche Ausrüstung des BKA im Einsatzfall.
Wenn wir uns früher auf ähnlich gelagerte Einsätze vorbereiteten, war es selbstverständlich, dass die Observationsbeamten mit allem technischen Gerät, inkl. Nachsichtgeräten in den Einsatz gingen.
Das Gericht teilte den auf dem Bahnsteig wartenden Journalisten auf Anfrage mit (die Öffentlichkeit war trotz öffentlicher Verhandlung nicht auf das Stellwerk gelassen worden), dass man auch mit bloßem Auge eine gute Einsicht auf den Tatort hatte. Die Aussage dieses Zeugen hat also Gewicht, da ich unterstellen muss, dass der Beamte auch aus dieser logistischen Sonderstellung heraus über alle Kommunikationsmittel verfügte. Die unmittelbare Nähe zu dem diensthabenden Bundesbahnbeamten im Stellwerk war von äußerster Wichtigkeit, denn so war es möglich in Absprache ggf. in den Ablauf der Züge, die in den Bahnhof ein- und ausfuhren, steuernd einzugreifen.
Doch ergab die Aussage den glatten Widerspruch zur Aussage der Zeugin Baron. Die GSG9-Beamten hätten nur Sicherungsaufgaben gegenüber dem auf den Gleisen liegenden mutmaßlichen Terroristen wahrgenommen.
Auch ich kann und darf nicht aufgrund von Zeugenaussagen urteilen. Dennoch und das ist wohl die wichtigste Erkenntnis, Sachbeweise sind die besten Beweise, wenn sie aus ihrer ursprünglichen Form heraus beurteilt werden.
Es gab allerdings im Fall Bad Kleinen auffällig viele Sachbeweise die am Tatort vergessen, nicht beachtet, verändert oder gar (angeblich aus Unkenntnis) vernichtet wurden. Für mich bleibt die Frage nach der Wahrheit über die Tötung von zwei Menschen noch immer bestehen, egal wie auch das Urteil des Bonner Gerichts zu Stande kam.
Kommentar von Jürgen Korell
Am Dienstag, den 29. September wies das Bonner Landgericht die Zivilrechtsklage der Eltern von Wolfgang Grams ab. Den Rechtsanwälten der Familie Grams war es mit einem cleveren Schachzug gelungen, dass die Umstände, die zum Tod von Wolfgang Grams in Bad Kleinen führten, doch noch vor einem deutschen Gericht verhandelt wurden. Allerdings dürfte allen Beteiligten und BeobachterInnen von vornherein klar gewesen sein, dass die Beweis-aufnahme in einem Zivilprozess nicht der Beweisaufnahme in einem Strafprozess entsprechen kann. So ist die Gerichtsentscheidung letztendlich auch keine Überraschung. Die 1. Zivilkammer unter dem Vorsitz von Richter Heinz Sonnenberger musste zugeben, dass sie schlichtweg nicht weiß, was genau passiert ist. Die
Kammer hält die Selbsttötungsversion ebenso für möglich wie die Tötungsversion.
Die Logik spricht gegen eine Selbsttötung von Wolfgang Grams und wird durch entsprechende Beweise untermauert. Die Selbsttötungsversion setzt voraus, dass Wolfgang Grams innerhalb von fünf bis sechs Sekunden zehn maximal elf Schüsse abgab, dreimal traf, wodurch ein Polizist verletzt und ein Polizist tödlich getroffen wurde. In dieser Zeit wurde Wolfgang Grams durch einen Bauchschuss schwer verletzt. Durch die mannstoppende Wucht des Geschoßes wird er rücklings auf das Gleis geschleudert, fasst während des Falls den Selbsttötungsentschluss und schießt sich immer noch fallend in den Kopf. Weil ein derartiger Handlungs-
ablauf schwer vermittelbar ist, wurde von offizieller Seite alles daran gesetzt, eine Beweisaufnahme in einem Strafprozess zu verhindern. Damit wurde der demokratischen Rechtsstaatlichkeit eine schallende Ohrfeige gegeben. Mit staatlicher Macht wurden die in Verdacht geratenen Polizisten geschützt und betreut. Der Einsatz für Volk und Vaterland sollte sich schließlich lohnen, selbst wenn die Hüter von Recht und Ordnung dabei Strafgesetze verletzt haben können.
Die Wahrheit wird eines Tages ans Licht der Öffentlichkeit kommen. Doch sie wird keinen mehr vom Hocker reißen. Die Zeit heilt alle Wunden, so daß keine Konsequenzen gezogen werden. Die Existenz der GSG 9 bleibt ebenso gesichert wie die der Geheimdienste.
Kurzmeldung
Nach dem Anti-Terror-Desaster von Bad Kleinen gingen mit "Geheim" gestempelte Akten anonym bei den Magazinen Focus und Stern sowie bei der taz ein. Teilweise wurde gegen Bargeld weiteres Material angeboten. Ob eine einzige oder gleich mehrere Quellen sprudelten, blieb unklar. In dieser Sache verurteilte das Landgericht Wiesbaden am 12. Oktober einen
ehemaligen BKA-Beamten wegen Bestechlichkeit und Verrats von Dienstgeheimnissen zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und zwei Monaten.
Angesichts des unglaublichen Verschwindens von Beweismaterial im Fall Bad Kleinen und des (bisher) ebenso unglaublichen Darüber-Hinwegsehens der Justiz handelt es sich
hier abermals um einen unglaublichen Urteilsspruch. Jürgen Korell hat in der UNBEQUEM mehrfach die zwielichtigen Verstrickungen des Journalisten Rudolf Müller, der Stern-Zentralredaktion und des BKA beschrieben.
(vgl. taz, 17.10.1998, S. 7; siehe auch: UNBEQUEM Nr. 25/ März '96, S. 21; Nr. 28/ Dezember '96. S. 29)
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zuletzt aktualisiert: 03.12.2024
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